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Die Mehrkröte

An dieser Stelle muss die Mehrkröte gelandet sein. Gelandet, von oben herab, denn es gibt keine Spur. Sanft in der Frühe, unbemerkt, so wie ein Raumschiff aus einem Weltraumabenteuer. Das gewaltige, schildkrötenartige Wesen, groß wie ein Haus, erstreckt sich nun über den gesamten Vorgarten. Und es nimmt die Sicht. Diesen anheimelnden Blick über Wiesen und Felder bis hinunter zum See, den Lothar so liebt.

Ihr breites Krötenmaul, wie ein Garagentor, berührt fast den Boden, denn den Kopf hält sie gesenkt. Ihre kürbisgroßen, meergrünen Augen wirken merkwürdig müde und klein. Ab und zu ein Zwinkern. In Zeitlupe. Kein bösartiges Monster ist die Mehrkröte. Nichts Furchterregendes hat sie, als nur ihre schreckliche Größe. Aber Corinna, Lothars Frau, fürchtet sich. Was wird die Mehrkröte tun?

Lothar wird die Polizei rufen. Es müssen Maßnamen eingeleitet werden. Die Mehrkröte muss weg. In wenigen Wochen werden sie mit dem Bau beginnen. Gegenüber, der Hotelkomplex. Er hätte es wissen müssen. Bevor Lothar das Grundstück gekauft hat, schon lange vorher, standen die Pläne fest. Jetzt ist es zu spät. Aber die Mehrkröte. Wie zum Hohn steht sie dort. Als wollte sie ihm die Gnadenfrist nicht gönnen. Die wenigen Wochen für den freien Blick.

Ein kleiner gelbleuchtender Ball kullert die Terrasse entlang, die kurze Böschung hinunter über den Rasen und bleibt zwischen den Krallen der Mehrkröte liegen. Krallen wie mächtige Baumwurzeln in den Boden gerammt. Und dann eine erstaunte Kinderstimme: »Ooooh! Guck mal da! Mama! Guck mal da!«

Um Himmels Willen das Kind! An der offenen Terrassentür, mit einem Fuß noch auf der Schwelle, steht Corinna, Lothars Frau, und redet auf den Jungen ein: »Komm Kurtchen, die Mama hat das Frühstück fertig und du darfst auch fernsehen. Bitte Kurtchen, sei ein lieber Junge.« - »Aber Mama, guck mal da!« ruft der dreijährige Kurt freudestrahlend, während er mit ausgestrecktem Arm aufgeregt auf die Mehrkröte zeigt.

»Du kommst sofort her, wenn deine Mutter dich ruft!« mischt sich Lothar drohend ein. Das Kind beginnt vor Freude zu hüpfen und in die Hände zu klatschen. Dann stürmt es mit Indianergeheul die Böschung hinunter direkt in die Klaue der Mehrkröte, verschwindet zwischen den Krallen, kommt wieder hervor und präsentiert stolz seinen über alles geliebten, gelbleuchtenden Ball.

Die Mehrkröte hebt ihren Fuß und da klammert sich Kurt an die baumstarke Kralle, die zwar langsam, doch mühelos leicht durch den Grasboden pflügt. »Juhuuuuh!« jubelt das Kind triumphierend. Für einen kurzen Ritt, bis die Mehrkröte wieder reglos verharrt.

»Lothar, tu doch endlich etwas!« ruft die Mutter entsetzt. Und Lothar tut etwas. Er wagt sich hinaus, über die Terrasse, bis an den Rand. »Wenn du nicht sofort hierher kommst, dann setzt es was!« herrscht er sein Kind mit wilder Drohgebärde an. Die Mehrkröte hebt neugierig ihren gewaltigen Kopf.

Corinna zerrt ihren Mann zurück ins Haus. »Das hat keinen Sinn Lothar, du machst sie nur nervös. Wir müssen die Ruhe bewahren und den Jungen vorsichtig da wegholen. Du weißt doch, dass er nicht auf dich hört.«

Der Junge trollt sich nun gerade die Böschung hinauf, scheint endlich zu gehorchen, bleibt noch einmal stehen, seinen kleinen, gelbleuchtenden Ball in der Hand auf dem Rücken, streckt er der Mehrkröte die Zunge heraus. Endlich bekommt die Mutter das Kind zu fassen, im selben Moment öffnet die Mehrkröte ihr garagentorgroßes, gewaltiges Maul.

Die Mutter erschrickt und schon hat sich der Junge ihrem Griff wieder entwunden. Jetzt hebt er die Hand und wirft seinen Ball, den über alles geliebten, gelbleuchtenden Ball, hebt die Hand und zielt und wirft, und wirf ihn mitten in den weit aufgesperrten Rachen hinein. »So!« sagt der Junge zufrieden und folgt brav seiner Mutter ins Haus.

Die Mehrkröte schluckt und ein seltsam melodisches Grunzen läßt Türen und Fenster erbeben. Ein Scharren und Schleifen, gerade so als ob ein riesenhaftes Fotokopiergerät seinen Geist aufgäbe. Im Verlauf eines mechanischen Rülpsers spuckt die Mehrkröte den Ball wieder aus.

Allerdings hat sich der Ball auf ungefähr doppelte Größe aufgeblasen. Eine kurze Jagd über die Terrasse und freudestrahlend überreicht Kurt den neuen Ball seinen Eltern. Im selben Moment beginnt die Mehrkröte zu spucken. Bälle. Hunderte Bälle, ein jeder das genaue Abbild von Kurts kleinem Ball. Dieselbe Farbe, dieselbe Größe. Einige etwas größer, die ersten drei bis fünf Exemplare. Etwas kleiner die letzten drei bis fünf Bälle.

Ein elektrisches Lächeln umspielt das Maul der Mehrkröte. Jeder Ball ist mit einer hauchdünnen, durchsichtigen Haut überzogen, die sich mit einem Fingerstrich leicht entfernen läßt. Lothar, dem Buchhalter, dämmert die ungeheure Bedeutung dieses Ereignisses für sein weiteres Leben. Er überwindet seine Unsicherheit, geht auf das seltsame Wesen zu und holt einen elektronischen Terminplaner aus seiner Westentasche hervor.

Wieder öffnet die Mehrkröte ihr gewaltiges Maul, doch die Verzagtheit eines Buchhalters lässt Lothar noch zögern. Zunächst. Dann aber wirft er das kleine technische Wunderwerk mitsamt seinem ganzen darauf gespeicherten Leben in das Maul der Mehrkröte. Mit dem Mut eines Glücksritters wirf er den elektronischen Terminplaner in das weit aufgesperrte Maul seiner Mehrkröte. Ja, seiner Mehrkröte, denn in seinem Garten ist sie gelandet.

Jetzt würde sich herausstellen, wozu das Wundertier taugt. So ein kleiner Ball läßt sich leicht nachmachen. Ein elektronischer Terminplaner dagegen hat es in sich, auch wenn er rein äußerlich nicht viel hermacht.

Ein seltsam melodisches Grunzen läßt Türen und Fenster erbeben. Das Scharren und Schleifen eines sterbenden Fotokopierers. Im Verlauf eines mechanischen Rülpsers spuckt die Mehrkröte das erste Duplikat aus. Ungefähr doppelt so groß wie das Original.

Hastig entfernt Lothar die Klarsichthülle und beginnt auf den Tasten zu spielen. Alle Termine, alle Adressen, Telefonnummern, Notizen scheinen vorhanden zu sein. Mehr noch, es scheinen Termine hinzugekommen zu sein. Neben der Arbeitssitzung am Morgen ist jetzt noch ein Geschäftsessen am Abend vorgesehen. Die Zahl der Adressen und Telefonnummern scheint sich ebenfalls vervielfacht zu haben.

Die Kröte beginnt wieder zu spucken. Terminplaner. Hunderte Terminplaner. Ab dem fünften Terminplaner stimmt die Größe mit dem Original überein. Die letzten drei bis fünf Exemplare sind etwas kleiner. Ein elektrisches Lächeln umspielt das Maul der Mehrkröte. Lothar beginnt die kleinen Geräte einzusammeln. Auf einem schnell herbeigeholten Tisch werden sie aufgestapelt und gezählt. 294 Kopien, exakte Kopien, dazu noch 4 größere und 5 kleinere Exemplare.

In Stichproben prüft Lothar die Funktionen. Alle Daten scheinen, soweit das auf den ersten Blick erkennbar ist, vollständig vorhanden zu sein. Die ersten vier und die letzten fünf Geräte sind unbrauchbar, auf das Geschäftsessen morgen abend würde Lothar jedenfalls keinen Pfifferling wetten.

Und zur Arbeitssitzung morgen vormittag wird er ebenfalls nicht erscheinen. Lothar wird überhaupt nicht mehr erscheinen. Er weiß noch nicht wie er es anstellen soll, aber er hat den Stein der Weisen entdeckt und wird sich nicht mehr drangsalieren lassen. Gold. Kann die Mehrkröte Gold vermehren? Nervös zerrt Lothar den Ehering von seinem Finger und ehe Corinna, Lothars Frau, ihn aufhalten kann, wirft er den goldenen Ring in das sich öffnende Maul seiner (Ja, Seiner! Seiner! Seiner!) Mehrkröte.

Das seltsam melodische Grunzen läßt Fenster und Türen erbeben. Das Scharren und Schleifen eines sterbenden Fotokopierers, der mechanische Rülpser, der erste goldene Ring, doppelt so groß, acht mal soviel Gold. Und endlich der Goldregen. 294 Kopien und einige gößere und kleinere Ringe, die mehr als dreihunderfache Menge Goldes. Gold ist der Anfang. Lothar wird das ganze Land aufkaufen, niemand wird ihm die Sicht verbauen. Lothar macht Gold mit seiner Goldkröte, mit seiner goldenen Mehrkröte, mit seinem krötenmäuligen Goldesel.

Melodisches Grunzen, Türen und Fenster erbebend, Schleifen und Scharren sterbender Kopiermaschinen, elektrisches Lächeln umspielend. Die Mehrkröte schluckt was sie gespuckt hat, den ersten Ring doppelter Größe. Die Mehrkröte spuckt was sie geschluckt hat, Ringe doppelter Größe, Ringe vierfacher Größe, Ringe achtfacher Größe in dreifacher Klarsichthülle, goldene Ringe, Ringe aus purem Gold, Gold, Gold, Gold.

Derweil sitzt Corinna, Lothars Frau, weinend am Tisch, pellt mit Fingernägeln Klarsichthaut von kleinen goldenen Ringen, Eheringen, Siegeln der Liebe. Bis dahin wusste sie nicht, was ihr der Ring bedeutet. Vielleicht spuckt die Kröte auch das Original aus, vielleicht gibt es ein Merkmal, an dem man es erkennt. Die Kopien sind perfekt. Die Gravur, jede Schramme, jede Einkerbung, perfekt. 294 identische Ringe, und einer könnte der echte sein, der einzige, Symbol für Liebe und Treue.

Liebe und Treue hängen nicht an einem Ring, hätte sie vor einer Stunde noch gesagt. Und überhaupt, was ist das? Liebe und Treue? Angetraut. Ihr Angetrauter. Lothar, ihr Ehemann. Der mit den 294 Eheringen. 294 mal Liebe, 294 mal Treue. Kann eine einzelne Frau denn so viel Liebe und Treue ertragen?

Panther von Thomas M. Conrad, Copyright (c) 1999 by Thomas Conrad, thomas-conrad.tumblr.com

Gedankenverloren beobachtet Corinna ihren Mann, wie er einen schweren goldenen Ring, einen Ehering 16-facher Größe, von 4 Schichten Klarsichthaut befreit. Mühsam schleppt Lothar den schweren Ring vor das nun wieder aufgesperrte Garagentormaul der Mehrkröte.

Durch eine pendelnde Bewegung versucht Lothar genügend Schwung für den Wurf aufzubauen. Mit einem letzten Schwung will er den Ring fahren lassen, da spürt er einen gewaltsamen Stoß in den Rücken, gerät ins Stolpern, stolpert vorwärts, mitsamt Ring und Schwung, durch das Garagentor, das Krötenmaul, über den unteren Rand stürzend, fallend in das weite, alles mehrende Maul der Mehrkröte.