Der außerordentlich heiße und dichte Kern aus Nickel und Eisen hat einen Durchmesser von knapp 7000 Kilometern. Er wird ummantelt von einer etwa 3000 Kilometer dicken Kugelschale aus dem Mineral Olivin, einem schweren Magnesiumeisensilikat. Diese innere Schale wird von einer zwischen 30 und 50 Kilometer starken Kruste umschlossen, wobei eine etwa 5 bis 10 Kilometer dicke Basaltschicht den gesamten Planeten umgibt, während eine zwischen 20 und 30 Kilometer dicke Granitschicht nur auf den Kontinenten ausgebildet ist und in den Bereichen der Meeresböden praktisch völlig fehlt. Den Abschluß bildet eine Deckschicht aus verschiedenen Gesteins- und Bodenformationen, die durch eine Reihe physikalischer, chemischer und biologischer Vorgänge über einen viele Jahrmillionen währenden Zeitraum entstanden sind. Hier finden wir in vielfältiger Durchmischung die unterschiedlichen Erze, verschiedene Schiefer- Kalk- und Kreidearten, Sandsteine, Stein- und Kalisalze, mit heißen Salzlösungen gefüllte Spalten. Wir durchdringen mächtige Kohleflöze und Erdöllagerstätten, die Überreste längst vergangener Lebenswelten. Aber nicht nur hier, in allen Gesteinsschichten hat das Leben in Form fossiler Einschlüsse seine Spuren hinterlassen.
Immer weiter nähern wir uns der Oberfläche. Längst hat die Temperatur den Siedepunkt unterschritten und wir treffen auf mineralhaltiges Grundwasser, eingeschlossen in undurchlässige Lehm- und Tonschichten. Weiter oben, wo das Grundwasser ausreichend Kontakt zur Außenwelt hat, finden wir die ersten lebenden Organismen, farblose Kleintiere, die sich von winzigen, im Sickerwasser enthaltenen Teilen organischen Materials ernähren.
Allmählich erreichen wir die letzten Schichten aus Sand und Geschiebemergel. Hier ist der Boden bereits reichhaltig durchwachsen vom Wurzelwerk der großen Pflanzen. Wir erwarten jeden Augenblick, in die äußerste, nur wenige Zentimeter dicke Humusschicht zu gelangen. Statt dessen stoßen wir wieder auf hartes Material und befinden uns unvermittelt im Kellergeschoß eines vor etwa 200 Jahren errichteten Gebäudes.
Nachdem wir uns durch ein Gewirr von abgestelltem Hausrat gekämpft haben, duchdringen wir einen mächtigen Deckenbalken, schwere, mit einer trockenen Lehmschicht bedeckte Eichenbohlen, gehobelte Dielenbretter und einen handgeknüpften indischen Teppich aus reiner Schurwolle, steigen weiter durch die verschiedenen Gewebeschichten und Hohlräume einer Federkernmatratze, durch mit Sonne Mond und Sternen bedruckte Baumwollstoffe und Daunenfüllungen, durch blutgefüllte Schichten lebenden Gewebes und verfangen uns schließlich in einem komplexen, von einem kleinen Knochengehäuse gegen die Außenwelt abgeschirmten Netz aus Nervenzellen, dem Gehirn eines ungefähr vierjährigen schlafenden Kindes.
Wir bemerken die schnellen Augenbewegungen der Traumphase und das leichte, ein wenig unruhige Atmen. Auf wunderbare Weise werden die am Tage gelernten Erkenntnisse und Fähigkeiten jetzt geordnet und gefestigt, die im Gedächtnis hinterlassenen Spuren geprüft und nachgezeichnet, ein hochkomplizierter Vorgang, der unmittelbar mit der Entstehung von Träumen verbunden ist. So wird das Kind am folgenden Tag seine Mutter fragen: »Mama, wann kann ich eigentlich fliegen?«
Kind: Mama, wann kann ich eigentlich fliegen?
Mutter: Fliegen? Etwa mit dem Flugzeug oder im Ballon?
Kind: Nein, ich meine einfach so, ganz normal.
Mutter: Aber Lotta, so etwas Dummes. Kein Mensch kann fliegen. Du bist doch kein Vogel, du müßtest ja Flügel haben!
Kind: Man braucht keine Flügel!
Mutter: So, braucht man nicht? Und woher willst du kleine Schlaumeise das wissen?
Kind: Heute nacht bin ich nämlich geflogen. Einfach so, ganz normal.
Mutter: Ach Lotta, das hast du geträumt!
Kind: Aber Mama, ich kann doch schon so viel! Ich kann so schnell laufen und auf Bäume klettern und schaukeln und seilspringen, und ich kann sogar schon schwimmen, und alles kann ich, und ich glaube, ganz bestimmt kann ich bald auch fliegen. Bitte Mama, zeig mir doch wie es geht.
Mutter: Ach Lotta, jetzt reicht es aber! Niemand kann einfach so fliegen, und ich kann es ganz bestimmt nicht, und darum kann ich es dir auch nicht zeigen, ich bin doch kein Engel. Du wirst schon auf dem Boden bleiben müssen.
Das Kind beginnt zu weinen: Ich möchte aber so gerne fliegen.
Die Mutter versucht zu trösten : Du meine Güte Lotta, deshalb brauchst du doch nicht zu weinen. Wir können ja alle nicht fliegen und sind trotzdem nicht traurig darüber.
Die Mutter will Lotta in den Arm nehmen, aber Lotta wehrt sich. Sie wird wütend und wirft sich auf den Boden. Sie schlägt mit ihren kleinen Fäusten auf den Boden und schreit: Ich will aber fliegen! Ganz bestimmt will ich fliegen! Und ich will und will und will aber fliegen!
Die Mutter ist besorgt. So etwas hat sie noch nie erlebt. Das kennt sie von Lotta gar nicht. Mit Mühe nimmt sie Lotta vom Boden auf und bringt das zappelnde Geschöpf ins Schlafzimmer, wo sie es auf das große Bett legt. Es dauert eine ganze Weile, bis Lotta sich beruhigt. Mit einem Taschentuch trocknet die Mutter ihre Tränen.
Das Kind, traurig: Mama, können Engel denn fliegen?
Die Mutter, erschöpft: Ja mein Schatz.
Das Kind, bevor es in einen leichten Schlaf entschlummert: Mama, vielleicht bin ich ein Engel, und vielleicht lerne ich doch noch fliegen. Das könnte doch sein, vielleicht...
Mutter: Ach mein kleiner Engel, du wirst mir doch nicht davonfliegen wollen.
Inzwischen haben wir das kleine Geschöpf schon ein wenig liebgewonnen, und jetzt erst wird uns die Abscheulichkeit unseres Verhaltens bewußt: denn niemals und unter keinen Umständen ist es uns erlaubt, an dieser Stelle zu verweilen. Behutsam verlassen wir darum den Kopf des Kindes und setzen unsere Reise fort, hinauf in den zweiten Stock des Gebäudes, dann ins Dachgeschoß, wo wir ein weiteres schlafendes Kind übersehen, bis wir schließlich den Dachschiefer durchstoßen und endlich in die freie Atmosphäre gelangen. Hier entdecken wir den gewaltigen Himmel, der uns magisch anzieht. Weiter und weiter entfernen wir uns von der Erde, verlieren sie schließlich als winzigen blauschimmernden Fleck aus den Augen und gehen vorerst ein in das Reich von Sonne Mond und Sternen. In wenigen Jahren wird es uns an diesen Ort zurückziehen, denn wir möchten Lotta fliegen sehen.
Copyright © 1996 by Hartmut Schwarz