Kurz vor dem Umkehrpunkt wird die im Zylinder eingeschlossene Luft so heiß, daß sich der nun eingespritzte Brennstoff, ein schweres Öl, von selbst entzündet. Der zurückweichende Kolben überträgt die dabei entstehende Explosionskraft mit Hilfe der Pleuelstange auf die Kurbelwelle. Dieser Vorgang wiederholt sich in rascher Folge über alle acht Zylinder des Motorblockes verteilt. Die Hubbewegung der Kolben bewirkt so eine gleichmäßige Rotation der Kurbelwelle, welche, von der Kupplung vor extremen Lastwechseln geschützt, an das Schaltgetriebe weitergeleitet wird. Die anfallenden Kräfte werden hier bezüglich Drehzahl und Drehmoment optimal an die jeweiligen Fahrbedingungen angepaßt und erreichen schließlich über ein flexibles System von Ausgleichsgetriebe und Gelenkwellen, welches den Lenk- und Federbewegungen des Fahrwerkes mühelos folgen kann, die Achswellen der Antriebsräder. Gummiprofile greifen auf Beton und treiben so das Fahrzeug voran.
Etwa einen Meter oberhalb des Motorraumes, im fahlen Licht der Notbeleuchtung, übersehen wir Gerda und finden Lotta mit Magneten in den Ohren. Kleine Magnete mit Spulen aus feinem Kupferdraht, elektrisch durchströmt, füllen Lottas Ohren mit Musik. Nicht zu laut, so hört Lotta im Hintergrund noch das Vorbeirauschen des nächtlichen Verkehrs, das gedämpfte Brummen des Diesels, ab und zu ein Flüstern oder leises Kichern und manchmal das Heulen der Dämonen.
Das Buch mit dem Titel »The Lost Boys Almanac« finden wir auf dem Fensterplatz neben Lotta. Wir beschäftigen uns nicht mit der unscheinbaren Gerda, Lottas bester Freundin, die es lose in den Händen auf ihrem Schoß liegen hat und vermutlich darüber eingeschlafen ist. Es gibt Interessanteres, zum Beispiel Dämonen.
Ein leises Knackgeräusch aus Lottas Ledertasche, die vor ihr auf dem Boden steht, veranlaßt Lotta, sich zu bücken und in der Tasche zu hantieren. Während Lotta beschäftigt ist, gehen wir eine Sitzreihe zurück und wenden uns Kai zu.
Kai mit Dämonen im Kopf. Sein bleiches, eingefrorenes Gesicht leuchtet unheimlich im Widerschein des Zauberspiegels, den er fest in beiden Händen hält. Bleiche, eingefrorene Hände. Kais Daumen aber gleiten flink und geschickt über etliche in den Griff eingearbeitete Vertiefungen, dabei Regeln folgend, die uns nicht verständlich sind. Und im Spiegel tanzen Dämonen. Sie tanzen und heulen und pfeifen und schreien. Wir fragen uns, ob es Kais Daumen sind, die Dämonen tanzen lassen, oder ob Kai von Dämonen behext wird. Der Platz neben Kai ist leer. Wir wagen aber nicht, uns zu setzen, denn auf keinen Fall dürfen wir Kai stören. Zu groß ist die Gefahr, daß er wieder völlig ausflippt oder einen Weinkrampf bekommt. Auch fühlen wir uns von der unerklärlichen Kälte abgestoßen, die uns erfaßt, sobald wir in seiner Nähe sind. Und da glauben wir auch wieder zu sehen, wie Dämonen aus dem Spiegel in Kais Kopf springen. Kai mit Dämonen im Kopf.
Lotta muß aufstehen, um nach ihrer Jacke zu greifen, die sie in der Gepäckablage verstaut hat. Vielleicht sucht sie etwas, was sie in der Tasche am Boden nicht gefunden hat. Dabei fällt ihr Blick auch auf Kai. Für einen Moment beobachtet sie ihn schweigend, wendet sich dann aber kopfschüttelnd ab. Hat sie Dämonen gesehen? Wir bemerken, daß Lottas Ohrenmusik schon eine ganze Weile schweigt. Nun beginnen die Magneten wieder zu spielen und Lotta lehnt sich in ihrem Sitz zurück.
Copyright © 1996 by Hartmut Schwarz