zu Texten anderer Autoren
Zuweilen brausen das Mondkind und ich in den weltweiten Weben so gemütlich vor uns hin, finden hier was und dort was, denken uns dies und das und manchmal, aber ganz selten, kommt es auch vor, dass ich dabei etwas bemerke. »Wenn du nun schon mal so wenig bemerkst«, sprach das Mondkind, dann könntest du eigentlich das Wenige, was du überhaupt bemerkst, wenigstens einmal aufschreiben, damit es andere Leute auch bemerken. Und da hat das Mondkind ganz recht und darum findet man hier jetzt meine Bemerkungen:
Eine richtige Abenteuergeschichte, so ganz nach Mondkinds Geschmack. Am Anfang geht die Welt unter. Keine Sintflut, dafür aber ein großer Krieg. Jede Menge Explosionen und gewaltige Erdbeben verwandeln die Erde in eine lebensfeindliche Wüste. Dort müssen die letzten Menschen, verlorene Kinder, ums Überleben kämpfen. Wenn es eine Zukunft gibt, dann nur in den Tälern der gigantischen Gräben, die sich im Verlauf der Katastrophe zuhauf gebildet haben, den Cañons (daher CanyonWorld). Hier hoffen sie Schutz zu finden vor den beständig tobenden Sandstürmen und der Trockenheit, die ihnen jegliche Lebensgrundlage zu rauben drohen (man kann sich auf Dauer ja nicht von aufgespießten Ratten oder Marshmallows ernähren).
Schuld an dem ganzen Desaster ist ein Metall Namens Collonam, das wegen seiner erstaunlichen Eigenschaften zum Zankapfel konkurierender Mächte geworden ist. Der Wissenschaftler Hans Semberg entwickelt eine auf Collonam basierende Repulsortechnik, die es den Menschen ermöglicht auf sogenannten Repulsor-Bikes (auch R-Bikes oder F-Bikes genannt, fliegenden Motorrädern: man sieht, wohin die Entwicklung geht!) durch die Cañons zu fliegen (kein Abenteuerbuch ohne den Traum vom Fliegen!). Leider befindet sich Herr Semberg in der Gewalt des bösen Seriley, eines Erzschurken, der sich dazu anschickt, die neu entstehende Welt als totalitärer Tyrann unter seine Herrschaft zu bringen.
Die Geschichte entwickelt sich rasant und handlungsorientiert, wie ein Drehbuch zu einem Actionfilm. Um die Sprache macht sich der Autor wohl keine Gedanken, sie scheint ihm bloßes Mittel zum Zweck zu sein, Motto: es reicht doch, wenn jeder weiß was gemeint ist. Aber wer bei so abenteuerlichen Sätzen wie »Plötzlich sahen die beiden in der Ferne zwei vom Wind verschwommene Punkte, die Grüne Strahlen von sich abgaben.« oder »Fred verdrückte sich ein paar Tränen und stand wieder auf.« nicht unbedingt »glaubt zu merken, wie sein Magen probiert durch die Speiseröhre zu entschlüpfen« braucht vor weiteren sprachlichen Entgleisungen keine Angst zu kriegen. Die Rechtschreibung bleibt ja nach der Reform sowieso jedem selbst überlassen. (Der Autor kann es aber auch besser, man schaue nur einmal in sein Hiran Fess Tagebuch).
Das Mondkind wollte übrigens wissen, ob in seinen Springstiefeln auch Collonam sei, aber ich glaube nicht. Diese technischen Details sind ja auch gar nicht wichtig. So ein tolles Flugrad möchte Mondkind natürlich auch haben (viele Sonnenkinder haben es angeblich schon!?) aber es soll ein himmelblaues sein, weil sie nämlich noch überhaupt nichts Blaues hat. Ich glaube, das Mondkind ist ein kleines Monster!
Die Arztromane habe ich ja mit 12 schon hinter mich gebracht, aber auf die lieben Schwestern bin ich immer noch neugierig. Schwestern, ein Filmdrehbuch, aber nur Szene 34. Szene 1 bis 33 habe ich versäumt (Achtung! eine Homepage, auf der man was versäumen kann!). Macht nichts, Filme über Krankenhäuser gibt es sowieso schon genug. Aber dann entdecke ich diese hübsche kleine Science-Fiction-Geschichte von einem kranken Haus, das es vor Einsamkeit nicht aushält, sich auf und davon macht (Repulsortechnik!?) und schließlich in einem Garten landet und den alten Herren ein angemessenes Zuhause gibt. - Ganz schnell mal reinschauen, bevor man es versäumt hat, schon wegen der wunderschönen Bilder, die Lina von Salzburg gemalt hat. - »Warum kannst du eigentlich nicht so schöne Bilder malen?« fragt das Mondkind ganz unschuldig. Gut, dass ich mein rotes Käppchen habe.
So seltsam wunderlich ist dieser Thidos. Träumt vom Fliegen. Oh wie trügerisch sind Weiberherzen. Verrat und Hohn und Spott. - »Das sind böse Worte«, sagt das Mondkind, »und wenn man dann kein rotes Käppchen hat ...« - Fort zieht es ihn, alleine in die Nacht. Ein Licht, die warme Kammer und ein Bett. Die Schöne singt im Garten. Im Schlamm versinkt die Welt. Sei unser Kind spricht die Natur... - Eine den Zeitgeist verachtende romantische Geschichte in vier Teilen, kunstvoll erzählt in einer märchenhaft sinnlichen Sprache aus vielen schönen Worten, die man längst vergessen glaubte. - »Und warum habe ich nur drei Farben?« fragt das Mondkind. Ganz unschuldig.
»Klar hat das Monster keine Lust zu gar nichts«, sagt das Mondkind, »weil es nämlich ein Mondmonster ist und nicht in den Garten darf.« Denkste, es will ja gar nicht raus. Und eine Mama hat es und summt ein Liedchen, als ob es ein kleines Kind wäre. »Quatsch«, sagt das Mondkind, »wenn es ein Kind wäre, würde es doch rauswollen! Und außerdem, da steht doch ganz groß: Mon-ster-chen.« Soviel Mama und soviel Quatsch, den es die ganze Zeit macht. Es ist ganz bestimmt ein Kind. Das mit dem Monster steht nur einfach so da. Man nennt Kinder ja manchmal auch blauäugige Monster. Jetzt hat es was Dummes angestellt und will kein blöder Erwachsener werden, sondern ein Monster. Also will es erst ein Monster werden. Das beweist doch, dass es ein Kind ist. Und auf den Spielplatz möchte es jetzt auch. Damit ist ja wohl alles klar, oder? - Umbedingt zu empfehlen für alle Erwachsenen, die Spaß an einer lustigen kleinen Kindergeschichte haben, mit viel Herz und Verstand geschrieben in einer wunderbar kindlich ironischen Sprache. - »Bin ich etwa ein Monster?« fragt das Mondkind. Na ja ... Also ...
Eine junge Dame und ein alter Herr in dunkler Nacht am Ufer eines einsam gelegenen Sees. Ein batteriebetriebener Videorekorder und ein abgedunkelter Computermonitor. Ein Lustmolch, wer dabei an was Anstößiges denkt.
»Siehst du«, sagt das Mondkind, »so ist das nämlich mit den alten Herren und den jungen Damen, und nicht was du immer gleich denkst!«
Richtig, nur eine unaufdringliche kleine Unterwelt-, Forschungs- und Entdeckungsgeschichte und als ich mir den Kopf darüber zerbreche, ob ein Ungeheuer die Tauchsonde verschluckt haben könnte, da beschämt das Mondkind meinen analytischen Verstand: »Darum geht es doch gar nicht. Viel wichtiger ist die zentrale Aussage hinter der Geschichte. Also etwa: der Weg ist das Ziel oder: Mädchen sind gar nicht so doof!«
Außerdem möchte das Mondkind jetzt endlich auch einen Namen mit »Die« haben, so wie die Lydia in der Geschichte.
Einsame Frau wartet sehnsüchtig am Telefon und Mann ruft nicht an. Eine dieser typischen Geschichten. Man(n) kennt das ja. Vor dem Einschlafen muss ich an die vielen Millionen Frauen denken, die nun überall auf der Welt ihr Telefon anstarren und verzweifelt auf meinen Anruf warten. Sie beginnen sich zu organisieren. Kaufen ganze Werbeblöcke der TV-Gesellschaften auf. Man(n) kann ihnen nicht entkommen. Auf allen Sendern. Es will mir nicht gelingen, den Fernseher abzuschalten. Dort rekeln sie sich in in seidenen Betten oder wälzen sich in überschäumenden Badewannen. Hübsch haben sie sich gemacht, lächeln mich an, flehen mich an, stöhnen vor Verzweiflung: »Bitte ruf mich an! Aaaah ... ruf aaan! Oooooh ruuuf an!« Flöten mir Telefonnummern ins Ohr. Ein nicht enden wollender Singsang von Telefonnummern. Aber ich rufe nicht an. Ich will nicht anrufen. Sie werden mich nicht ins Verderben locken. Mit ihren Sirenengesängen. Niemals. Nein. Neiiiiiiiiinn.....!!!
Schweißgebadet wache ich auf. Alles nur ein furchtbarer Alptraum. Der Morgen dämmert schon. Ich stehe auf. Schlafen kann ich jetzt sowieso nicht mehr. Später beim Frühstück, die Morgenzeitung bereits ungelesen im Altpapier gelandet (man kennt das ja: seitenweise Kleinanzeigen mit Telefonnummern. Anita, Babsi, Cindy, ... Ruf an, ruf an!), da ereilt mich das unausweichliche Schicksal: mein Telefon läutet. Wie von einem Geschoss getroffen sacke ich im Stuhl zusammen. Es läutet. Einmal, zweimal, dreimal, viermal, grausame fünf Mal. Der Bannspruch meines Anrufbeantworters, bisher hat er noch jeden Eindringling verjagt, diesmal versagt er kläglich. Es ist Mondkinds Stimme: »Hallo, ich bin's! Sag mal, schläfst du noch? Ich bin grade auf dem Weg zur Schule. Hab jetzt endlich mein eigenes Telefon, ein Handy. Ich geb dir gleich meine Nummer. Kannst mich ja mal anrufen ...«.
»Der arme alte Herr Promelkow«, spricht das Mondkind, »hat er denn gar keinen Nachttopf?« Und während ich mir überlege, was der alte Herr Promelkow wohl nachts alleine auf dem Balkon gemacht hat, pfeift das Mondkind ein altes Lied von Paul Simon und schreibt dabei etwas in ein kleines rotes Notizbuch. »Hihihi«, kichert das Mondkind, »aber nur in ganz dringenden Notfällen.«
»Warum darf ich das denn nicht lesen?« beschwert sich das Mondkind energisch und schnappt mir den Text aus der Hand. - Das ist nichts für Kinder! Komm, gib's wieder her! Bitte! - Aber da hilft kein Flehen. »Denkste!« spottet sie nur, reißt die Tür auf und poltert die Treppen hinunter. Warte, wo willst du denn jetzt hin? »Nur mal die Mama fragen! Bin gleich wieder da!« hallt es zurück.
Bloß das nicht. Da sitze ich wie auf heißen Kohlen und schäme mich. Mit Fingern werden sie auf mich zeigen. Verfluchtes Internet. Ohne was Böses zu ahnen trifft man auf so einen pornographischen Text und schon steht man als Kinderverderber da. Eine halbe Stunde schmore ich im eigenen Saft. Kommt gleich wieder. Wenn sie das ihrer Mutter zeigt, kommt sie bestimmt nicht wieder. Da klingelt es an der Tür. Wahrscheinlich ihre Mutter. Will mir den Kopf waschen. Oder es ist gleich die Polizei. Nein, nur das Mondkind.
»Hallo!« ruft sie fröhlich, »Ich hab die Geschichte meiner Mutter vorgelesen. Eine ziemlich lustige Geschichte, hat sie gesagt, aber nicht pornographisch. Und dass ich sowas ruhig mal lesen darf. Weil ich nämlich eigentlich schon eine junge Dame bin und kein Kind mehr. Und warum auch nicht? Bloß weil du so verklemmt bist und immer noch an den Klapperstorch glaubst? Außerdem kenne ich mich schon ganz gut aus in solchen Liebesdingen, aber davon kriegst du ja nichts mit.«
Jetzt werde ich rot. Die modernen Zeiten machen mir zu schaffen. Aber das reicht ihr nicht, sie kennt keine Gnade. »Ahaaa!« spöttelt das Mondkindmonster genüsslich, »jetzt verstehe ich auch, warum du unbedingt vor dem 1. Mai noch ein Faxgerät haben wolltest! Du glaubst wohl vielleicht... «
Also...Das ist doch gar nicht wahr, da habe ich die Geschichte ja noch gar nicht gekannt! Und wo bitte ist jetzt wieder die Computermaus geblieben? Ach, das Mondkind ... Aber was soll denn der Quatsch jetzt? Was machst du da mit der Maus? - »Küssen«, antwortet sie gleichmütig, »vielleicht ist es ja ein verwunschener Prinz, man muss nur die richtige Stelle finden.« - Also gut. Modern Times. Eine lustige Liebesabenteuergeschichte, aber nur für Erwachsene, die nicht mehr an den Klapperstorch glauben (ein gut versteckter Link in der Schublade).
(Achtung!!! Schneck-Schreck!) Das war mir bisher noch gar nicht aufgefallen. Rote Autos überall, Personen in roten Jacken, rote Ampeln, roter Backstein, rote Dachziegel, Bücher mit rotem Einband und ... ein rotes Käppchen. Warum musste es eigentlich rot sein? Gelb und Orange sind als Signalfarben ebenso geeignet, noch besser wäre ein grelles Muster. Überhaupt benimmt sich Mondkind in letzter Zeit sehr auffällig. Bringt mir täglich die Post nach oben, leert meinen Papierkorb aus und fragt dauernd, ob sie sonst noch irgendwelche Besorgungen für mich machen könne. Und ich Dummkopf habe mir nichts dabei gedacht. Ab jetzt werde ich vorsichtig sein.
Abends kommt sie dann nochmal vorbei. »Hallo, ich bring dir nur den Laptop zurück. Vielen Dank für's Ausleihen. Ohne dich wäre ich echt aufgeschmissen. Ich hab auch noch 'ne Überrasschung für dich.«
K. G. B. - Da steht es in großen roten Lettern auf ihrem T-Shirt. Dass sie mich ausspioniert ist ja schon schlimm genug, aber sie könnte wenigstens soviel Taktgefühl aufbringen, ihre geheimdienstliche Tätigkeit vor mir zu verbergen. Ich starre sie nur wortlos an.
»Was kuckst du denn so? Ach so, unser neues T-Shirt. Geil, nicht? Ich hab' dir auch eins mitgebracht. Und noch 'ne Kopie von unserer ersten Demo-Single. Ist vielleicht nicht ganz dein Geschmack, aber hör's dir trotzdem mal an ... Sag mal, ist dir nicht gut, du siehst ja so blass aus, kann ich dir irgendwie helfen?« - Nö, ist nichts. Nur etwas überarbeitet. Vielleicht. In letzter Zeit. Ist schon gut. Danke (bloß nichts anmerken lassen).
»Na gut, ich muss auch gleich weiter, noch ein paar CDs und T-Shirts verteilen. Also, bis morgen dann. Und nochmal danke!« - Grässlich, diese aufgesetzte Freundlichkeit. Aber mich täuschst du nicht. Ich bin jetzt gewarnt. Auch deine alberne Demo-CD wird dir nichts nützen. Lächerlich, der Titel: Paranoia Rotes Feuer, K. G. B. - die Kinder-Geburtstags-Bande.
»Halt, halt, halt«, bremst mich das Mondkind, »Du solltest mir bloß die quadratischen Gleichungen erklären. Inzwischen redest du schon 'ne halbe Stunde über Differential- und Integralrechnung und fängst jetzt auch noch mit komplexen Zahlen an. Das reicht mir! Ich will schließlich nicht zur Streberin werden. Wenn ich die Mathearbeit morgen packe, bin ich voll zufrieden.«
Was ist das für eine Einstellung? Es reicht doch nicht, sich irgendwas oberflächlich anzueignen, für die nächste Mathearbeit oder so, und drei Tage später hast du's wieder vergessen. Es geht darum, Wissen zu verinnerlichen. Und dazu sollte man ein bestimmtes Thema nicht isoliert betrachten, sondern auch in seinem weiteren Umfeld erarbeiten. Erst wenn man sich auch intensiv mit den über- und untergeordneten Wissensgebieten und mit den seitlichen Bezügen beschäftigt hat, hat man etwas wirklich begriffen. Du lernst doch nicht für die Schule, sondern für's Leben!
»Alles Quatsch«, sagt das Mondkind, »das weiß ich schon jetzt, dass ich das im Leben nicht brauche. Ich übe jetzt lieber noch ein paar quadratische Gleichungen, und zwar nur für die Mathearbeit morgen und bestimmt nicht für's Leben. - Wo kann ich mich denn hinsetzen? Räum doch mal die ganzen Bücher weg. Das sieht hier vielleicht aus! Überall aufgeschlagene Bücher, stapelweise. Ich dachte, du holst dein Wissen nur noch aus dem Internet. - Holzapfel, Holzauge, Holzbein ..., sag bloß du suchst immer noch nach diesem komischen Wort. Das geht ja schon seit Wochen!«
Ich kann es nun mal nicht ertragen, wenn ich etwas nicht weiß. Darum lässt mir dieses Wort auch keine Ruhe. Es wirkt einfach zu natürlich und urwüchsig, als dass es nur an einer Stelle im Internet vorkommen sollte. Anfangs hätte ich gewettet, dass es einen Ursprung in den Antiken Mythen gibt, wie z.B. das trojanische Pferd. Oder wenigstens in der utopischen Literatur, aber es war nichts zu finden. Der Holzkopf, salopp abwertende Bezeichnung für einen langsam, schwer begreifenden Menschen, das scheint schon in enger Beziehung zu stehen, wenn auch von gegenteiliger Bedeutung. Der Holzriese war ein echter Rückschlag. Es heißt die Holzriese, aus dem süddeutschen oder österreichischen, eine Holzrutsche zum Herablassen von geschlagenem Holz im Gebirge. Und dann natürlich der Holzknecht als Bezeichung für einen Holzfäller.
Es stimmt, ich suche nun schon wochenlang, vertane Zeit in Mondkinds Augen. Aber man muss auch bedenken, zu welchen Erkenntnissen man allein auf der Suche kommt, selbst wenn es das, wonach man sucht, am Ende gar nicht gibt. Mir ist vollkommen unbegreiflich, wie jemand freiwillig auf dieses erhabene Gefühl verzichten kann, auf diese erstaunlichen Möglichkeiten, sein Wissen mit jedem Tag, mit jeder Stunde gar, aus einem buchstäblich unerschöpflichen Quell nach Herzenslust immer weiter mehren zu können.
»Also, wenn ich mir deine Gestalt so zwischen all den Büchern betrachte«, bemerkt das Mondkind spöttisch, »dann glaube ich nicht, dass es sich um einen Bierbauch handelt. Ich fürchte eher, du könntest jeden Moment vor lauter Wissen explodieren.«
[alle Holz-Wörter aus: DUDEN, Deutsches Universal Wörterbuch, 1989]
»Gedichte finde ich doof«, sagt das Mondkind, »die sind immer so langweilig.« - Ich finde nicht, dass Gedichte immer langweilig sind. Vielleicht berühren mich die meisten Gedichte nicht, weil sie nicht zu mir passen. Es gibt aber durchaus Gedichte, von denen ich sofort begeistert bin.
Ob man nach guten und schlechten Gedichten unterscheiden kann? Ich überlege, was ein gutes Gedicht ausmacht. Wie die Bezeichnung schon sagt, müssen Gedichte besonders dicht sein. Dicht, nicht im Sinne von undurchlässig, sondern im Sinne von verdichtet oder komprimiert. Gute Gedichte haben eine hohe Dichte. Jedes Wort einer Zeile, jede Zeile eines Verses, jeder Vers eines Gedichtes hat ein eigenes Gewicht, eine eigenständige Wirkung, unabhängig von seiner Bedeutung für das übergeordnete Ganze. Auf diese Weise bedeutet das Gedicht nicht einfach, was es sinngemäß aussagt (Muss es einen Sinn haben?), sondern umfasst eine Vielfalt von Deutungen. Es bewegt mich, es kann etwas in mir auslösen. Einen Schauer über den Rücken. Ein herzhaftes Lachen. Ein tiefes Glücksgefühl. Melancholie. Einen kämpferischen Trotz. Tränen (der Trauer, des Schmerzes, der Rührung).
Ein kleines Beispiel: Wenn sie sagt: »Ich bin unruhig und betrübt«, dann drückt das kurz und knapp aus, was sie fühlt, hat aber sonst keine Wirkung (jedenfalls nicht in einem Gedicht, wenn ich keinen persönlichen Bezug zu der Klagenden habe). Was könnte eine gute Dichterin oder ein guter Dichter daraus machen? Vielleicht zwei Zeilen: »Mein Ruh' ist hin / Mein Herz ist schwer«. Ein wenig länger, doch so viel mehr.
Und Anne Elbergs Gedichte? - Vielleicht sind sie nicht dicht genug, um mich so vollkommen zu begeistern, aber es sind schöne Sätze darinnen (schöne Worte, schöne Zeilen), die sich in meinem Kopf von selbst verdichten.
Wetterleuchten am Horizont - die Schwärze der Nacht - Der Wind in den Gräsern - wie wenn - Warm in Deinem Arm - will, will, will - schreien, laufen, fliegen - und dann geht es einfach dahin - so unbedingt, so unentrinnbar - Dich blauäugig bestaunen - durch tränenblinde Augen - so weit, so weit - Quellen versiegen - Doch Du mein Liebster - stille Luft - vages Licht - in diesen Tagen fliegen nur die Krähen - Durch den Nebel, den Nebel - ist Dir auch so kalt - im Fallen - wie seltsam - ich schaue - den Himmel - keine Antwort - Alles okay - weiter unten - weiter weg - weiterhin ...
Erinnert dich das an gar nichts? - »Nö«, sagt das Mondkind, »bloß, die sind so traurig, die meisten. Warum schreibt die Anne nur so traurige Gedichte? Traurig und langweilig.« - Seltsam. Das hätte ich vom Mondkind nicht erwartet. Da blättert es gelangweilt in einem kleinen Notizbuch. - »Weißt du eigentlich«, fragt das Mondkind plötzlich verwundert, »warum in meinem roten Notizbuch acht Seiten fehlen? Da fehlen nämlich acht Seiten, das habe ich eben erst gemerkt. Am Anfang. Warum fehlen da acht Seiten? Acht!«
Gut, dass Mondkind nun endlich vernünftig wird. Gestern gab es großen Streit, bloß weil ich ihr geraten habe, anstelle der Informatik-AG lieber den Hauswirtschaftskurs zu belegen. Schließlich sind Kochen, Waschen und Bügeln uralte Kulturtechniken, die auch dann noch wichtig und aktuell sind, wenn schon längst niemand mehr wissen will, was ein Betriebssystem ist. Richtig wütend ist Mondkind geworden. Am Ende hat sie mich einen chauvinistischen Frauenfeind genannt und die Tür hinter sich zugeknallt.
Um so mehr freute es mich, als sie heute morgen wieder ankam und mich fragte, ob sie mal meinen Herd benutzen darf. Natürlich habe ich nicht nein gesagt. Ich weiß ja nicht, ob sie nun meinem Rat tatsächlich folgen wird, aber immerhin hat sie sich meine Worte wohl zu Herzen genommen. Buchstäblich über Nacht muss sie ihren Stolz überwunden haben und zur Vernunft gekommen sein. Da ist es ganz normal, dass sie ihr Gesicht wahren möchte indem sie behauptet, es ginge nicht so sehr ums Kochen als vielmehr um ein wissenschaftliches Experiment.
Eigentlich lasse ich sie nur ungern alleine in der Küche herumwerkeln, aber sie wollte durchaus keine Hilfe. Wenn sie sich wenigstens erstmal die elementaren Grundlagen in der Schule angeeignet hätte, wäre mir wohler. Auf keinen Fall wollte ich aber riskieren, das einmal geweckte Interesse gleich im Keim zu ersticken.
Als ich dann ihren Aufschrei hörte, wurde mir angst und bange. Sie wollte mich aber nicht in die Küche lassen und beruhigte mich, es sei alles in Ordnung, das Experiment laufe bestens. Dann dieses fürchterliche Rumpeln und Poltern. Durch den Türspalt bat sie mich, sämtliche Sicherungen auszuschalten und ihren alten Vogelkäfig und den Ketscher aus dem Keller zu holen.
Ich versuche darüber nachzudenken, ob ich in Zukunft auch Texte bemerken sollte, die nur unter Pseudonym veröffentlicht sind. Bei dem Lärm aus der Küche kann ich mich kaum konzentrieren. Wer weiß denn, ob die anderen, so normal klingenden Namen alle echt sind? Jetzt soll ich für das Mondkind ein Taxi bestellen. Egal wohin, bloß weg, irgendwo raus in den Wald. Ich beschließe meinen Prinzipien treu zu bleiben, auch bei einer so urkomischen Zaubergeschichte wie Homunculus. Wer allerdings Kadabra heißt und sein Kind auch noch Abra nennt, muss sich nicht wundern, wenn es später behauptet, das sei nur ein Spitzname.
Erst als der Taxifahrer klingelt, kommt Mondkind endlich aus der Küche. Ihr Gesicht ist ganz verrußt und sie wirkt vollkommen erschöpft und abgekämpft. »Puuh! Das wär geschafft.« stöhnt sie niedergeschlagen. »Krieg bloß keinen Schreck wenn du in die Küche kommst, ich bin morgen wieder da und helf dir aufräumen, tschau!«.
Den alten Vogelkäfig in der Rechten mit einem Tischtuch sorgsam abgedeckt klappert sie durchs Treppenhaus. Aus der Küche kommt ein beißender Gestank. Man sollte die Bedeutung der Informatik keinesfalls unterschätzen.
Die schönsten Liebesgedichte sind ja die, in denen das Wort Liebe gar nicht vorkommt. Wohin du auch gehst, ich folge dir. Im vorliegenden Fall durch die verschiedenen Abteilungen eines Museums. Der besondere Reiz besteht natürlich darin, dass die Worte zugleich ein müheloses Springen zwischen den Welten vorgaukeln. Kraft der Liebe.
»Moment mal«, fragt das Mondkind, »woher willst du denn wissen, dass es in einem Museum passiert?« - Das steht doch im Titel. Und außerdem noch mal da unten. Der Gegensatz zwischen dem träumerischen Folgen durch die ganze Welt und der akademischen Realität im Museum schafft ja gerade diese eigenartige Spannung. Wie von selbst hat jedes Wort eine doppelte Bedeutung, ein doppeltes Gewicht. Hast du etwa geglaubt, es ginge in Wirklichkeit durch die ganze Welt?
»Warum denn nicht«, sagt das Mondkind, »ich zum Beispiel springe täglich mühelos zwischen allen möglichen Welten hin und her. Und das mit der Wirklichkeit musst du mir auch noch mal richtig erklären. Ich glaub das kapier ich nie.« - Spricht's und springt mit einem Satz aus dem Fenster davon.
Copyright © 1999 by Hartmut Schwarz