vom roten Käppchen
I come home in the morning light
My mother says when you gonna live your life right
Als der Mondkindvater seine kleine Tochter zum erstenmal sah, da freute er sich und rief: »Sieh nur, dieses vergnügte Lächeln um ihren Mund und dieses lustige Zwinkern in ihren Augen. Oh, ich habe sie gleich liebgewonnen. Und wie hübsch rund ihr kleines Gesicht ist, und so hell ist ihre Haut, sie ist ja schön wie der silberne Mond!« Die Mutter aber sorgte sich, denn sie wußte nun, daß ihre Tochter ein Mondkind war.
Alle Tage stand Mondkind am Fenster im ersten Stock und schaute den Sonnenkindern bei ihren lustigen Spielen zu, und sie wurde traurig und wünschte sich nichts sehnlicher, als einmal mit den Sonnenkindern spielen zu dürfen und auch ein Sonnenkind zu sein. Aber ihr wißt ja, wie es mit den Mondkindern ist: wer ein Mondkind besonders lieb hat, so wie der Vater oder die Mutter, der kann es am hellen Tage sehen, für alle anderen aber bleibt es gänzlich unsichtbar, und nur nachts, im Silberschein des Mondes, könnt ihr es erkennen.
Was aber geschah, als Mondkind das Alleinsein nicht länger ertragen wollte? Heimlich - die Mutter durfte ja nichts merken - schlich sie die Treppe hinab, lief in den Garten hinaus zu den Sonnenkindern, wollte mit ihnen Fangen spielen, aber die Sonnenkinder in ihrem wilden Spiel konnten das arme Mädchen nicht sehen und stießen es einfach um. Und ihr kleines Köpfchen schlug so hart auf die Wegsteine, und Sonnenkinder überall fielen auf sie und wußten nicht wie und wollten ihr nicht weh tun und traten sie doch in den Bauch und in den Rücken, und bald blutete sie hier und dort und wäre sicher verloren gewesen, wenn die Mutter sie nicht im letzten Moment gerettet hätte.
Viele Wochen war Mondkind krank. Dann wurde sie wieder ganz gesund, aber es machte ihr keine Freude mehr, den Sonnenkindern beim Spiel zuzuschauen, sie wußte ja nun, daß sie niemals dazugehören würde. Die Mutter war eine gute Freundin, mit der sie allezeit plaudern konnte, und wenn die Mutter einmal keine Zeit hatte, so las Mondkind in den vielen Abenteuerbüchern, die der Vater ihr geschenkt hatte, und waren die Abenteuer dort nicht viel größer, als alles, was die Sonnenkinder je erleben würden? Nein, sie brauchte die Sonnenkinder nicht, wollte sie für immer vergessen und die Sehnsucht tief in ihrem Herzen begraben.
Aber wenn Mondkind auch nie mehr aus dem Fenster gesehen und schon lange nicht mehr an die Sonnenkinder gedacht hatte, die Sehnsucht war ein vergifteter Pfeil in ihrer Seele, und Mondkind wurde trauriger und trauriger und konnte gar nicht sagen, warum sie so traurig war. Der Vater und die Mutter aber wußten um die verlorenen Träume, und sie wollten nicht eher ruhen, als bis sie der kleinen Tochter den größten Wunsch ihres Lebens erfüllt hätten.
Es war an Mondkinds fünftem Geburtstag. Die Mutter nahm sie in den Arm, wie sie es an jedem Geburtstag getan hatte, herzte und küßte das Mädchen und wünschte ihm viel Glück für das neue Lebensjahr. Und auch der Vater nahm Mondkind in den Arm und gratulierte ihr zum Geburtstag, und dann gingen sie zu dritt in die gute Stube, und Mondkind mußte sich sehr wundern, was sie dort sah.
Ein großer Tisch stand mitten in der Stube und viele Stühle darum, und der Tisch war gedeckt, wie für eine große Geburtstagstafel. »Aber das kann doch nicht für meinen Geburtstag sein!« rief Mondkind überrascht, denn niemals war Besuch zu ihrem Geburtstag gekommen, es gab ja niemanden, der sie sehen konnte.
»Du mußt die Kerzen ausblasen!« sagte der Vater freundlich. Und richtig, mitten auf dem Tisch stand ein großer Geburtstagskuchen mit fünf brennenden Kerzen darauf, und Mondkind blies alle Kerzen mit einem Atemzug aus, und das sei ein gutes Zeichen, meinte die Mutter. - »Wer aber soll denn bloß diesen großen Kuchen essen, wenn doch niemand zu meinem Geburtstag kommt?« Mondkind war immer noch ganz erstaunt.
»Möchtest du nicht dein Geschenk auspacken?« fragte der Vater freundlich. Ja, da mitten auf dem Tisch, gleich neben dem Kuchen, stand eine runde Schachtel aus rotem Karton. Was mochte wohl darin sein, denn eigentlich hatte Mondkind sich ein neues Abenteuerbuch gewünscht, aber werden Abenteuerbücher denn in runden Schachteln verpackt? Und der Vater und die Mutter waren ja so aufgeregt, hatten ganz glänzende Augen, da mußte wohl etwas Wunderbares in der Schachtel sein. »Schnell«, drängte die Mutter, »wir können es kaum erwarten!«
Mondkind hob den Kartondeckel vorsichtig an und lugte ein wenig über den Rand. Aber was war denn das? Da brannte ja ein rotes Feuer in dem Karton! »Mama, Papa, ich glaube mein Geschenk brennt!« rief Mondkind erschrocken. - »Aber nein«, beruhigte sie die Mutter, »schau es dir getrost an, es ist nur der feuerrote, weitleuchtende Samt, der in deine Augen blendet.«
Die Mutter öffnete den Karton nun ganz und holte etwas daraus hervor, und auf einmal war die ganze Stube in ein wundersames, feuerrotes Licht getaucht, und in ihren Händen hielt die Mutter ... Ja, es war ein rotes Käppchen, was die Mutter da in den Händen hielt. Ein feines Käppchen war es, und es war gemacht aus einer harten Schale von festem Schildpatt, und innen war es ausgepolstert mit weichen Daunen und rosa Seide, und von außen war es ganz bezogen mit kostbarem, feuerrotem, weitleuchtendem Samt, und dieser Samt war es ja, der so feuerrot leuchtete.
Und freute sich das Mondkind nun über sein Geburtstagsgeschenk? Gewiß, es war ein sehr feines Käppchen, aber bestimmt kein Geschenk für ein Mondkind. Was sollte ein Mondkind denn mit solch einem Käppchen anfangen? Sollte es das Käppchen etwa aufsetzen und in der Stube damit herumspazieren? Der Vater und die Mutter wußten doch, daß Mondkind nicht hinaus in den Garten durfte, es würde sie ja niemand sehen. Ach, es war zu schrecklich. Am liebsten hätte sie geweint, aber um ihre arme Mutter und ihren armen Vater nicht zu enttäuschen, nahm sie das Käppchen in die Hand und bedankte sich artig für das schöne Geschenk.
Wie gut sich das Käppchen anfühlte, Mondkind streichelte zart über den roten Samt. Und es roch so wunderbar nach Waldbeeren und Sommerblumen. Aber war ihr das Käppchen nicht zu groß oder zu klein? »Nun, ich will es doch wenigstens einmal aufprobieren«, dachte Mondkind bei sich und setzte das rote Käppchen vorsichtig auf ihren Kopf.
Nein, das Käppchen war nicht zu groß und nicht zu klein, es paßte haargenau, als wäre es nur für Mondkind gemacht. Aber was war denn mit Mondkind geschehen? War ihr nicht eben noch zum Weinen zumute, und nun fühlte sie sich auf einmal so glücklich! Ja, dieses Käppchen hatte eine besondere Zauberkraft, das hat Mondkind gleich gespürt. Oh, was war das für ein seltsames Kitzeln, als hätte sie jemand auf den Mund geküßt. Und oh, sie mußte sich die Augen reiben, als wäre dort ein Körnchen hineingeweht.
»Sieh nur«, rief der Vater überglücklich, »unser Mondkind hat sein vergnügtes Lächeln wieder!« - »Ja, und das lustige Zwinkern! Das lustige Zwinkern in seinen Augen ist wieder da!« rief die Mutter und klatschte vor Freude in die Hände.
Alle drei waren so glücklich, und sie tanzten um den Tisch herum, und sie sangen alle Geburtstagslieder, die sie kannten, und am Ende war der Vater ganz erschöpft, und er setzte sich auf einen Stuhl und sah Mondkind lange und fest in die Augen. »Sag Mondkind«, sprach er dann, »möchtest du jetzt nicht hinausgehen, zu deinen Freunden, den Sonnenkindern, und lustige Spiele mit ihnen spielen?«
Aber wie konnte der Vater so etwas sagen? Niemals mehr durfte der Vater von den Sonnenkindern sprechen. Nein, nicht einmal das Wort »Sonnenkinder« wollte Mondkind je wieder hören. Wußte der Vater denn nicht von der wunden Stelle in ihrer Seele, die er damit berührt hatte. Oh, wie lange hatte sie gebraucht, die Sonnenkinder ganz zu vergessen, und nun waren sie wieder da, und die Sehnsucht war wieder da, war zurückgekehrt und war größer als je zuvor. Nein, das konnte Mondkind nicht ertragen. Wußte ihr dummer Vater denn überhaupt, was er da angerichtet hatte?
Gewiß wußte der Vater, was er tat, denn er hatte lange darüber nachgedacht. Indem er von den Sonnenkindern sprach, zog er den vergifteten Pfeil aus Mondkinds Seele, der sie über die Jahre so traurig gemacht hatte. Damit mußte er seiner Tochter sehr weh tun, und sie wäre sicher vor Schmerz gestorben, wenn sie nicht das rote Käppchen auf dem Kopf getragen hätte, und das Käppchen konnte allen Kummer schnell vertreiben.
Zuerst aber tat es so weh, daß Mondkind in ihr Zimmer laufen, sich auf ihr Bett werfen und nur noch weinen wollte, weinen, weinen, bis sie endlich gestorben wäre. Aber Mondkind kam nur bis zur Stubentür. Dann lief sie wieder zurück, lief aufgeregt in der Stube hin und her, wollte nicht mehr weinen, wollte lieber lachen, wollte etwas anderes, wollte, wollte, wünschte sich, aber was? Ja, mit den Sonnenkindern wollte sie spielen. Hatte der Vater sie nicht gefragt, ob sie mit den Sonnenkindern spielen wollte? Dann dachte sie wieder an ihr neues rotes Käppchen. Oh, dieses Käppchen hatte Zauberkräfte. »Aber Papa, Mama«, rief das Mondkind hoffnungsfroh, »macht denn mein rotes Käppchen, daß mich die Sonnenkinder sehen können?« - Und seht ihr, genau dafür war das rote Käppchen ja gemacht, nämlich, daß ein Mondkind von jedermann am hellen Tage gesehen werden kann.
Der Vater und die Mutter nahmen Mondkind an der Hand und gingen zusammen mit ihr die Treppe hinunter, die zum Garten führte. Schon im Treppenhaus konnte Mondkind das fröhliche Sonnenkindergeschrei hören, und ihr wurde ein wenig bang ums Herz. »Denn«, so dachte Mondkind bei sich, »manchmal sind die Sonnenkinder so in ihr Spiel vertieft, da würden sie nicht einmal einen Elefanten bemerken, der durch den Garten spazierte, und ob sie dann ein Mondkind mit einem roten Käppchen sehen würden, ist nicht gewiß.«
Aber wie hatte Mondkind sich getäuscht! Natürlich, einen Elefanten kann man leicht übersehen, wenn man zu sehr in sein Spiel vertieft ist, aber ein Mondkind mit einem roten Käppchen auf dem Kopf kann niemand übersehen. Und kaum, daß Mondkinds Köpfchen hinter der Haustür hervorlugte, da wurden die Sonnenkinder auf einmal ganz still, und alle schauten nur zu Mondkind hin.
»Ein neues Kind!« rief da plötzlich eines der Sonnenkinder. Und die Sonnenkinder liefen ganz aufgeregt auf Mondkind zu und umringten sie, und alle riefen durcheinander: »Dich haben wir ja noch nie hier gesehen!« - »Wo kommst du denn auf einmal her?« - »Wie heißt du denn?« - »Wie alt bist du?« - »Wohnst du auch hier?« - »Hast du vielleicht meine kleine goldene Kette gefunden?« - »Seit wann wohnst du denn hier?« - »Warum haben wir dich bloß noch nie gesehen?« - »Warum hast du so ein rotes Käppchen auf dem Kopf?«
So viele Sonnenkinder und so viele Fragen. Mondkind wußte gar nicht, wem sie zuerst antworten sollte. Da legte die Mutter den Finger an ihren Mund und bedeutete den Sonnenkindern, fein still zu sein. Dann erklärte sie den Sonnenkindern, daß Mondkind schon immer hier gewohnt hat, seit sie geboren war. Und die Mutter erklärte den Kindern auch, wie es mit den Mondkindern ist, und auch, wofür Mondkind das rote Käppchen brauchte, und als einige größere Sonnenkinder das nicht glauben wollten, da drückte die Mutter ihr Mondkind ganz fest an sich, und dann erlaubte sie ihm, das rote Käppchen noch einmal abzusetzen, und wirklich, da war vom ganzen Mondkind auf einmal nichts mehr zu sehen.
Die großen Sonnenkinder fanden das recht lustig, aber die kleinen Sonnenkinder ängstigten sich, und als eines gar anfing zu weinen, da setzte das Mondkind sein Käppchen schnell wieder auf den Kopf, und die Mutter ermahnte es, das rote Käppchen niemals abzunehmen, wenn es mit den Sonnenkindern spielte. Damit das Käppchen auch beim Spielen nicht herunterfallen konnte, zog die Mutter das Band unter seinem Kinn fest zu, dann strich sie ihrem Mädchen liebevoll die Haare aus der Stirn und gab ihm noch einen Abschiedskuß. »So, mein Mondkind«, sprach die Mutter, »nun spiel schön mit den Sonnenkindern, und vergiß nicht, daß du heute Geburtstag hast, und wenn ihr hungrig und müde vom Spiel seid, dann sind alle Sonnenkinder zu deiner Geburtstagstafel eingeladen.«
Welch ein glücklicher Tag für unser Mondkind! Aber auch die Sonnenkinder freuten sich, eine so liebe Spielgefährtin gefunden zu haben, denn was Abenteuer anging, da wußte Mondkind Bescheid, sie hatte ja so viele Abenteuerbücher gelesen. Die Kinder erlebten herrliche Seeabenteuer und Waldabenteuer und Bergabenteuer und viele andere Abenteuer, aber am schönsten waren doch die Mondabenteuer, die man ja nur mit einem richtigen Mondkind erleben konnte.
Erst am späten Nachmittag kamen die Kinder zur Geburtstagstafel, und auch nur, weil sie es vor Hunger nicht mehr aushalten konnten. Denn eigentlich hatten sie überhaupt keine Zeit und mußten auch gleich wieder los auf neue Abenteuer. Und als der Tag zu Ende war und Mondkind endlich nach Hause kam, da war sie so müde, daß sie am liebsten gleich schlafen gegangen wäre. »Aber«, so sprach das Mondkind zu seiner Mutter und zu seinem Vater, »ich habe noch etwas wichtiges zu tun. Mein rotes Käppchen ist mein ganzes Lebensglück, denn es macht, daß mich die Sonnenkinder sehen können. Aber ich habe auch herausgefunden, daß es noch für viele andere Dinge nützlich ist. Zum Beispiel schützt es auch vor bösen Schlägen auf den Kopf, und vor bösen Worten und vor bösen Blicken schützt es auch, und das muß ich unbedingt noch aufschreiben, damit ich es niemals vergesse.«
Mondkind holte ihr rotes Notizbuch hervor - »Wie gut, daß es rot ist!« dachte sie bei sich - und sie riß alle Seiten heraus, die sie vor langer Zeit mit traurigen Gedichten beschrieben hatte, bis nur noch leere Seiten übrig waren. Die erste Seite ließ sie frei - man kann ja nie wissen - und dann schrieb sie alle guten Sachen auf, die das rote Käppchen vollbringen konnte, so wie sie es heute erlebt hatte, und das nannte sie die rote Käppchenliste. Und immer, wenn sie etwas Neues entdecken würde, was das rote Käppchen vollbringen konnte, dann würde sie es in die rote Käppchenliste schreiben.
Als die Mutter das Mädchen an diesem Abend endlich zu Bett brachte, da ist Mondkind gleich eingeschlafen, und sie hat von den Sonnenkindern geträumt, von den wunderbaren Abenteuern und von ihrem roten Käppchen, und im Traum kam ihr auch ein kleines Lied in den Sinn, das sie am nächsten Morgen gleich aufschreiben mußte. Und sie schrieb es auf die erste Seite ihres roten Notizbuches - wie gut, daß sie die erste Seite freigelassen hatte - und sie nannte es das rote Käppchenlied, und das ging so:
Ich geh' aus, nur im Mondenschein
Die Mama sagt heut soll ich ein Sonnenkind sein
Und Mama weiß - genau, was mich glücklich macht
Mein rotes Käppchen macht das
O ja, mein Käppchen macht Spaß
Als Mondkind bin ich allezeit allein
Der Papa sagt, das muß nun bald gar nicht mehr sein
O Papa sag, was mich zum Sonnenkind macht
Mein rotes Käppchen macht das
O ja, mein Käppchen macht
Mein rotes Käppchen macht
Macht das
Und die Mondkindzeit ist um
Rot, mein Käppchen macht froh
Mein rotes Käppchen macht froh
Es wird dann so wundervoll sein
Mein Leben wird schön und ich zieh durch die Welt
Ich bin so froh, wenn nur die Sonne mir lacht
Mein rotes Käppchen macht das
O ja, mein Käppchen macht
Mein rotes Käppchen macht
Macht das
Und die Mondkindzeit ist um
Rot, mein Käppchen macht froh
Mein rotes Käppchen macht froh
Mein Käppchen macht froh
Mein Käppchen macht froh
(Nach dem amerikanischen Rotkäppchenlied »Girls Just Want to Have Fun« von Robert Hazard, © 1979 Heroic Music)
Ja, nun war Mondkind so glücklich, und es gab nichts auf der Welt, was sie sich noch wünschte, wenn sie nur ihr rotes Käppchen hatte. Und wenn euch das rote Käppchen genug ist, dann dürft ihr jetzt zu den Sonnenkindern spielen gehen. Wer aber mehr will, der soll noch zur nächsten Geschichte bleiben.
Copyright © 1997 by Hartmut Schwarz